Wege aus der Wohnungskrise: Leben im Industrie- und Gewerbegebiet?
Wie sich die Wohnungsknappheit möglichst schnell eindämmen lässt, treibt landauf, landab die allermeisten Städte und Kommunen um. In künftig bislang rein gewerblich genutzten Gebieten Wohnraum zu schaffen, wie es beispielsweise in einem Erdinger Gewerbegebiet geplant ist, kann eine Lösung sein. Der Eigentümer des Areals, der Erdinger Immobilienentwickler Jürgen Freiwald und die Architektin und Professorin Ruth Berktold, Geschäftsführerin des Münchner Architekturbüros Yes Architecture, haben der Stadt Erding kürzlich entsprechende Pläne vorgestellt, die auf breite Zustimmung stießen: Die Erdinger Stadträte haben grünes Licht für den Aufstellungsbeschluss gegeben. Bei der Potentialanalyse und dem Entwicklungskonzept unterstützte sie das auf Bau und Immobilien spezialisierte Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE, das nun auch bei der Erstellung des neuen Bebauungsplans mit im Boot ist.
In Deutschlands Städten verschärft sich der Wohnungsmangel, zeitgleich kommt der Neubau nur schleppend voran. Im Jahr 2024 gab es rund 216.000 Baugenehmigungen für Wohnungen, weit entfernt vom einst ausgerufenen Regierungsziel von jährlich 400.000.[i] Auch in der Kreisstadt Erding, die 30 Kilometer entfernt von München im nordöstlichen Teil des Regierungsbezirks Oberbayern liegt, ist die Lage nicht anders. Einer aktuellen Marktanalyse des Pestel-Instituts zufolge ist auch hier der Neubau von Wohnungen stark zurückgegangen. Der Landkreis Erding beheimatet rund 37.000 Einwohnern und benötigt jährlich etwa 1.060 neue Wohnungen, um den Bedarf zu decken. Doch die tatsächliche Bauaktivität bleibt hinter diesem Ziel weit zurück.[ii]
Ändern will das der Projektentwickler Jürgen Freiwald im Gewerbegebiet Erding Süd, das bislang hauptsächlich Fachmärkte auf dem 15.000 m² großen Gelände beherbergt. „Wir zielen auf eine gemischte Nutzung des Areals ab. Nach wie vor sollen die Einkaufsmöglichkeiten bleiben, es sogar etwas mehr Gewerbe als heute geben. Neu ist aber, dass wir eine Art urbanes Dorf planen mit möglichst viel dauerhaften Wohnraum“, sagt Freiwald. Künftig sollen sich 22.500 m² Bruttogrundfläche auf mehrere, maximal siebengeschossige Gebäude verteilen. Etwa 70 Prozent der Flächen sind für den Wohnungsbau vorgesehen, das entspricht etwa 180 neuen Wohnungen.
Attraktive Mischnutzungen sollen für zusätzlichen Wohnraum sorgen
Seit vielen Jahren unterstützt Drees & Sommer-Teamleiter Tobias Golz Entwickler und Investoren dabei, zukunftsfähige Quartiersentwicklungen umzusetzen. Auch am Erdinger Gewerbegebiet Bergham hat er an der Potentialanalyse und dem Entwicklungskonzept mitgewirkt. „Ob sich ihre Gewerbegebiete auch für Wohnzwecke eignen, das sollten Städte und Kommunen grundsätzlich prüfen. Gerade vor dem Hintergrund des fallenden Büromarktes braucht es neue Lösungen für unternutzte Orte. Es geht um attraktive, grüne Mischnutzungen in städtischen oder stadtnahen Gewerbegebieten, um attraktiven Wohnraum zu schaffen. Geeignete Flächen sind in der Regel schon sehr gut erschlossen und erreichbar und bieten zumeist gute Infrastruktur.“ sagt Golz. Damit dauerhaftes privates Wohnen überhaupt im Industrie- und Gewerbegebiet möglich ist, müssen dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen sorgfältig geprüft und zumeist die Bebauungspläne geändert werden.
Verkehrsbefreites, grünes Quartier mit Vorzeige-Charakter
So auch in Erding: Damit private Wohnungen im Gewerbegebiet erlaubt sind, muss die Stadt Erding den bisherigen Bebauungsplan ändern. „Der Stadtentwicklungsausschuss in Erding hat einstimmig für den Aufstellungsbeschluss des neuen Bebauungsplans gestimmt. Damit startet das Verfahren, um einen neuen Bebauungsplan für das Gebiet und wir können in die Detailplanung einsteigen“, so Jürgen Freiwald. „Wichtig ist uns, dass Wohnen und Arbeiten Hand in Hand gehen, mit Einkaufsmöglichkeiten und Gastronomie direkt vor der Tür,” erklärt Freiwald. Vorgesehen seien zudem eine Kita, betreutes Wohnen und ein Ärztehaus. Die derzeit angesiedelten Unternehmen sollen nach Möglichkeit am Standort bleiben, die derzeitigen Verkaufsflächen sogar ausgebaut werden von derzeit 3.200 auf 4.500 m². „Wir wollen eine hohe Aufenthaltsqualität sicherstellen. Daher wollen wir das bislang stark versiegelte Gebiet in weiten Teilen entsiegeln und begrünen“, erklärt Freiwald.
Nutzungskonflikte meiden
Damit auch anderswo funktioniert, was in Erding bereits angestoßen wurde, gilt es einige Dinge zu beachten. Stadtentwicklungs- und Quartiersexperte Tobias Golz von Drees & Sommer betont: „Eine sorgfältige Planung ist das A und O, um Konflikte zwischen verschiedenen Nutzungen zu vermeiden. Es geht darum, eine ausgewogene Mischung zu finden, die sowohl die Bedürfnisse der zukünftigen Bewohnenden, angrenzende Anwohner als auch der Gewerbetreibenden berücksichtigt. Etwa beim Wärme- und Schallschutz. Doch erstens ist Gewerbe heute in der Regel nicht mehr so laut, zweitens sind die Möglichkeiten größer, etwaige Lärmquellen zu mindern.“ Und oftmals würde Golz zufolge auch in Sachen Nachhaltigkeit noch etwas erreicht: Durch den Umbau von Gewerbeimmobilien in Wohnraum würde Bausubstanz erhalten und CO2 gespart.
[i] Wohnungen: Monatliche Baugenehmigungen bis 2024 | Statista
[ii] Im Raum Freising und Erding: „Dem Wohnungsbau geht die Luft aus“ – Freising – SZ.de