Kolumnen

Dreisprung von Hype zu Hype – Warum die Immobilienbranche digital nicht vorankommt

Frankfurt am Main, 01.12.2025
Dr. Thomas Herr

Vor ein paar Tagen landete der JLL-Research Bericht zur KI-Adaption in der Immobilienwirtschaft in meiner Inbox. Wieder einmal liest man von einer Branche im Aufbruch: 93% der deutschen Corporate Real Estate-Entscheider sehen sich auf dem Weg in die KI-Zukunft. Agenten, kognitive Zwillinge, generative Workflows – das ganze Vokabular einer technologischen Revolution. Bis man ein paar Zeilen weiter liest, dass „die vollständige Realisierung der erwarteten Benefits – insbesondere bei Energieersparnis, Kostenreduktion und tiefergreifender Produktivitätssteigerung – bislang hinter den Erwartungen zurück“ bleibt, und weiter „Nur 35 % der deutschen Technologieprogramme liefern die erwarteten Ergebnisse.“ Der Rest bewegt sich irgendwo zwischen Euphorie, Experiment und orientierungslosem Herumprobieren.

Diese Kluft zwischen Selbstbild und Wirklichkeit ist kein neues Phänomen. Sie ist der zur schlechten Gewohnheit gewordene Status-Quo einer Branche, die seit Jahren den Dreisprung von Hype zu Hype perfektioniert hat. Erst wurde BIM zur Jahrhundertinnovation erklärt, dann sollte Blockchain alles verändern, später wurde das Metaverse zum neuen Immobilienuniversum stilisiert. Heute präsentieren sich dieselben Stimmen mit derselben Selbstgewissheit als Agentic-AI-Pioniere. Die Schubkraft der Schlagworte ist ungebrochen – nur die operative Umsetzung bleibt stabil davon unbeeindruckt.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie langlebig dieser Widerspruch ist. Die ZIA/EY-Digitalisierungsstudien dokumentieren seit einem Jahrzehnt mit beeindruckender Konstanz, wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Branche ist. 2016 erklärten 90 Prozent der Unternehmen, Digitalisierung sei „strategisch relevant“ – während praktisch keiner über integrierte Datenstrukturen, konsistente Systemlandschaften oder automatisierte Prozesse verfügte. Digitalisierung bestand vor allem aus Tablets, mobilen Arbeitsplätzen und einzelnen Cloud-Versuchen.

2017 setzte sich dieses Bild nahtlos fort. Die Unternehmen bezeichneten Fehlende personelle Ressourcen (72%), Fehlende Digitalisierungsstrategie (66%) und Intransparente Datenstruktur bzw. mangelnde Datenqualität (65%) als größte Hindernisse.  Schon damals war der Grund des digitalen Rückstands offenkundig, und schon damals wurde er systematisch ignoriert.

In den folgenden Jahren verfestigte sich diese Diagnose. Die Quote der Unternehmen mit mangelhafter oder fehlender Datenqualität blieb konstant über sechzig Prozent, moderne Technologien fanden kaum Eingang in die operative Arbeit, und Automatisierungsgrade verharrten bei den meisten Unternehmen im Bereich von unter zehn Prozent. Trotz aller Panels, Whitepapers und Positionspapiere blieben die Fortschritte minimal.

Auch in im Jahr 2025 wurde die Situation nicht besser. Die Studie zeigt, dass 75% der Unternehmen intransparente Datenstruktur und mangelnde Datenqualität als Hürden der digitalen Transformation benennen und 59% weiterhin mit veralteter, nicht integrierter Software arbeiten – keine Verbesserung zu den Befunden der Vorjahre. Der Branchenkrise geschuldet wird zunehmend auch das Thema Kosten bzw. Investitionsbedarfe (62%) als problematisch benannt. Wobei: wo Unternehmen von „Digitalinvestitionen“ sprechen war schon in der Vergangenheit Vorsicht geboten. Aufgrund eigener Erfahrungen in verantwortlicher Funktion habe ich digitale Ausgaben von mehr als 3% des Umsatzes in dieser Branche immer als Flunkerei bewertet. Die Studien liefern auch keine klare Abgrenzung, sodass unter dem Schlagwort alles Mögliche verbucht werden kann – vom schicken neuen iPhone des Chefs über den Drucker mit Faxfunktion für die Behördenkommunikation bis hin zum überfälligen Upgrade der ERP aus dem Mainframe Zeitalter. Mit echter, transformativer Digitalisierung hat das in der Regel wenig zu tun.

Im Moment ist Agentic AI das neue Leitmotiv der deutschen Digital-Immobilienszene. Doch für den zu erwartenden Fall des abflachenden Interesses an diesem Buzzword wegen erneut erfolgloser Implementierungsversuche zeichnet sich als Rettung schon der nächste Hype am KI-Himmel ab.

Die internationale Spitzenforschung arbeitet an Physical AI. Dabei handelt es sich nicht um die nächste Marketingfolie, sondern um ernsthafte Grundlagenforschung. Yann LeCun, scheidender Chief AI Scientist von Meta und einer der Architekten des Deep Learning, Fei-Fei Li, Professorin an der Stanford University und Pionierin der modernen Computer Vision, arbeiten mit anderen an der Frage, wie KI die physische Welt nicht nur beschreiben, sondern tatsächlich verstehen kann. Physical AI gilt in der KI-Wissenschaft als notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer allgemeinen künstlichen Intelligenz (AGI), weil erst die Fähigkeit, Räume, Objekte, Kräfte und Kausalitäten zu begreifen, echte maschinelle Intelligenz ermöglicht.

Für die Immobilienwirtschaft wäre eine solche Entwicklung tatsächlich relevant. Unsere Realität besteht nicht in Token und Vektoren, sondern in Gebäuden, Materialien, Energieflüssen, Nutzerströmen und technischen Anlagen. Doch ich fürchte, dass auch dieses vielversprechende Thema von der branchenüblichen Hype-Maschinerie zuverlässig neutralisiert wird, bevor es irgendeine Wirkung entfalten kann. Dabei zeigt gerade diese Zukunftsvision auf, wie weit unsere derzeitigen Fähigkeiten von wirklich bahnbrechender Wirksamkeit entfernt sind. Bevor KI die physische Welt begreifen und verändern kann, müssen wir erst einmal die Datenbasis und die Infrastruktur schaffen, um digital anschlussfähig zu sein.

Hier lohnt der Blick auf eine weitere Diagnose, die Reifegradstudie „Transform to Succeed“ von TH Aschaffenburg mit Drees & Sommer. Die Studie von 2025 bestätigt das Bild der ZIA/EY-Berichte treffsicher. Der digitale Reifegrad stagniert seit zwei Jahren bei rund 3,4 von 5 Punkten – ein Mittelmaß, das sich trotz aller Trendbegriffe, Roadmaps und Pilotprojekte hartnäckig hält. Die operative Realität bleibt unverändert, Worte und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.

Das führt zum eigentlichen Problem: der Branche fehlen nicht die Technologien – es fehlen die Grundlagen. Wir scheitern nicht an KI, sondern an Hausaufgaben. Seit zehn Jahren ist die Botschaft dieselbe, nur die Schlagworte wechseln.

Vielleicht ist es deshalb Zeit, die Sportart zu wechseln. Der Dreisprung von Hype zu Hype, von BIM zu Blockchain zu Metaverse zu Agentic AI sieht dynamisch aus, bringt uns aber nicht vorwärts. Was wir brauchen, ist eine Ausdauerleistung wie das 50-Kilometer-Gehen: nicht glamourös, wenig attraktiv für Zuschauer, schmerzhaft, schweißtreibend, aber notwendig. Daten aufräumen. Prozesse definieren. Systeme integrieren. Kompetenzen entwickeln.

Einige Unternehmen haben sich auf diesen Weg gemacht. Doch nur wenn wir ihn in der Breite beschreiten, kann digitale Technologie ihr Potenzial entfalten. Sonst bleibt die Branche, was sie nach einem Jahrzehnt der Digitalisierung ist: beeindruckend im Ankündigen – und erstaunlich konsequent im Nicht-Umsetzen.