ESG, Nachhaltigkeit

Marktkommentar: Bestand neu gedacht

Von Maximilian Meurer, Experte für Bauen im Bestand und Nachhaltigkeitsoptimierung LIST Gruppe

06.06.2025

Der Gebäudebestand in Deutschland ist in die Jahre gekommen. Und zwar sowohl vom Baujahr – mehr als 92 Prozent aller Wohngebäude in Deutschland wurden vor 2012 errichtet; fast die Hälfte sogar vor 1970 – als auch im Hinblick auf energetische Standards, Nutzungsflexibilität und gesellschaftliche Relevanz. Zum Zeitpunkt des anvisierten Ziels von Klimaneutralität im Jahr 2045 werden die meisten der heute bestehenden Gebäude noch existieren. Gleichzeitig verändern sich Marktbedingungen rapide: Die Nachfrage nach klassischen Büroflächen sinkt, Innenstädte erleben Strukturbrüche, und die ökologischen Anforderungen an Bauvorhaben steigen kontinuierlich.

Das ist weder überraschend noch besonders neu. Neu ist aber die Ernsthaftigkeit, mit der die Branche den Bestand wiederentdeckt. Lange Zeit galt der Neubau als Königsweg. Er ist planbar, berechenbar, architektonisch und technisch auf dem neuesten Stand. Doch dieses Paradigma wird umgedacht. Denn bei ehrlicher Betrachtung wird deutlich: Wir können es uns – ökologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich – schlicht nicht mehr leisten, den Gebäudebestand systematisch zu ignorieren oder abzuwerten. Es bedarf eines bewussten Perspektivwechsels: Bestand muss nicht bloß erhalten, sondern weiterentwickelt werden. Und zwar mit ebenso viel Sorgfalt wie Gestaltungswillen.

Bestandssanierung im Dreiklang

Der Diskurs um den CO₂-Fußabdruck von Gebäuden hat das Thema „graue Energie“ fest auf die Agenda gebracht. Die Botschaft ist klar: Jedes Bauteil, das nicht abgerissen, sondern weiterverwendet wird, spart Ressourcen. Der Erhalt, die Sanierung und die Umnutzung bestehender Bausubstanz ist daher ein Schlüsselinstrument für modernes und klimabewusstes Bauen – zumal der Gebäudesektor in Deutschland für mehr als die Hälfte des Abfallaufkommens und für rund ein Drittel des Endenergieverbrauchs und der CO₂-Emissionen verantwortlich ist.

Aber die ökologische Argumentation allein greift zu kurz. Denn auch aus ökonomischer Sicht sprechen immer mehr Gründe für die Arbeit mit dem Bestand. In urbanen Lagen sind Grundstücke rar und teuer. Gleichzeitig nehmen Leerstände bei Büro-, Retail- und teilweise auch Gewerbeimmobilien spürbar zu – sei es durch verändertes Nutzungsverhalten, Homeoffice-Trends oder strukturelle Marktverschiebungen. Diese Objekte bieten enormes Potenzial für Revitalisierung, Umnutzung und neue Nutzungskonzepte – vorausgesetzt, man bringt den Willen und das Know-how mit, den Bestand nicht als Hemmnis, sondern als Rohmaterial zu verstehen.

Wer frühzeitig, tief und systematisch in die Analyse und Entwicklung bestehender Gebäude einsteigt, kann echte Mehrwerte schaffen – und zwar im Dreiklang von Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und städtebaulicher Relevanz.

Bestandsbau ist anders – die Herangehensweise ist entscheidend

Dabei ist die Revitalisierung eines Bestandsbau keineswegs einfacher als ein Neubau. Sie ist vor allem anders. Während sich die Risiken im Neubau primär im Baugrund verbergen, sind sie im Bestand vielfältiger: Schadstoffe, unzureichend dokumentierte Umbauten, komplexe Statik, veraltete Gebäudetechnik, Brandschutz oder Genehmigungsfragen. Die Realität ist jedoch: Diese Risiken lassen sich steuern – und zwar umso besser, je früher sie erkannt werden.

Der Schlüssel liegt in der fundierten Analyse des Bestands. Wer frühzeitig mit systematischer Substanzbewertung, Schadstoffuntersuchungen, technischen Prüfungen und Machbarkeitsstudien beginnt, schafft Planungssicherheit. Dabei geht es nicht nur darum, Probleme zu identifizieren, sondern vielmehr darum, Chancen sichtbar zu machen. Denn viele Gebäude sind robuster und anpassungsfähiger, als es auf den ersten Blick scheint.
Ein typischer Denkfehler ist die Annahme, ein Bestandsumbau sei grundsätzlich unberechenbar. In Wahrheit gilt: Je mehr über ein Gebäude bekannt ist, desto besser kann kalkuliert, geplant und wirtschaftlich bewertet werden. Gerade hier zeigt sich der Wert eines integrierten Pre-Engineering-Ansatzes – nicht als nachgelagerte Maßnahme, sondern als zentrale Grundlage für jede Entscheidung.

Interdisziplinär statt Silodenken

Bestandsentwicklung ist kein Einzelgewerk. Sie funktioniert nur im Zusammenspiel zwischen Architektur, Tragwerksplanung, Gebäudetechnik, Genehmigungsrecht, Nachhaltigkeitsberatung und Bauausführung. Von der Idee über die Analyse bis zur Umsetzung muss die gesamte Kette interdisziplinär gedacht werden – frühzeitig, koordiniert, faktenbasiert.

Besonders wichtig ist dabei die frühe Projektphase. Denn hier werden die Weichen gestellt – nicht nur für das technische Konzept, sondern vor allem für die wirtschaftliche Bewertung und die Investitionsentscheidung. Wer zu spät prüft, riskiert kostspielige Nachbesserungen. Wer hingegen früh die richtigen Fragen stellt, kann Potenziale heben, bevor sich der „Planungszug“ verselbstständigt hat.

Und dabei geht es um mehr als die technische Machbarkeit, es geht auch um die Frage: Was ist wirtschaftlich und städtebaulich sinnvoll? Ein leer stehendes Bürogebäude in einer dezentralen Lage eignet sich nicht zwingend nur zur Wohnumnutzung – wohl aber für produktionsnahe Dienstleister, soziale Einrichtungen oder quartiersnahe Gewerbenutzungen. Die intelligenten Konzepte entstehen dort, wo Marktkenntnis, Gestaltungskraft und Ingenieursverstand zusammenkommen.

Die Arbeit mit dem Bestand als Zukunftsstrategie

Entscheidend für den Erfolg einer Bestandsentwicklung ist die präzise Kostenabschätzung. Sie wiederum basiert auf belastbaren Erkenntnissen über das Objekt. Genau deshalb ist das frühzeitige Pre-Engineering der Gamechanger: Wer Schadstoffe, Tragstruktur, TGA, Fassade und Raumstruktur bereits zu Beginn bewertet, kann realistische Umbaukosten kalkulieren – und erhält die wirtschaftliche Entscheidungsgrundlage für Eigentümer, Investoren und Nutzer.

Natürlich ist nicht jedes Gebäude sofort wandelbar. Lage, Substanz und Struktur sind entscheidend. Aber genau deshalb braucht es ein systematisches Vorgehen, das wirtschaftliche und ökologische Fragen nicht gegeneinander ausspielt, sondern intelligent miteinander verzahnt. Denn gerade aus ökologischer Sicht spielt der Weiterbau im Bestand eine wichtige Rolle: Jede Tonne CO₂, die durch Erhalt statt Abriss vermieden wird und jede Ressource, die nicht in einem Downcycling-Prozess verschwindet, ist ein Gewinn.

Trotzdem trauen sich viele Marktteilnehmer noch nicht an das Thema heran. Zu kompliziert, zu unsicher, zu individuell, heißt es oft. Doch: Bestand ist keine „Rocket Science“. Es ist vor allem eine Frage der Planung, des Know-hows und des Mutes zur frühen Auseinandersetzung. Die Technik haben wir, das Wissen ebenso.

Der Wandel ist längst da – wir müssen ihn nur annehmen.

 

Weiterführende Informationen

https://www.list-gruppe.de/bauen-im-bestand/