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Neue Studie zeigt: Immer mehr Wohnquartiere in Deutschland sind überfordert – Politik muss handeln

Berlin, 06.05.2025

Immer mehr Wohnquartiere in Deutschland stehen unter massivem sozialen Druck. Die neue Studie „Überforderte Quartiere. Engagement – Auswege – Lösungen“ zeigt auf, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen wie Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit in bestimmten Stadtteilen bündeln – mit zunehmend dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Studie wurde im Auftrag des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW vom InWIS-Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung erstellt.

Die Überforderung einer zunehmenden Zahl von Wohnquartieren zeigt sich in Zahlen: 227 Stadtteile sind aktuell im Programm „Sozialer Zusammenhalt“ gefördert – doch mindestens 345 weitere zeigen ebenso kritische soziale Indikatoren, erhalten aber keinerlei Förderung. In vielen Großwohnsiedlungen leben überdurchschnittlich viele Empfänger von staatlichen Transferleistungen, was zu einer Schrumpfung des Einzelhandelsangebots, zur Bildungssegregation und einem „Milieu der Ärmlichkeit“ führt. Auch die Altersstruktur vieler Quartiere hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Der Anteil der über 65-Jährigen liegt in manchen Vierteln bereits bei über 30 Prozent, Tendenz steigend.

„Unsere Analyse zeigt, dass wir es nicht mehr nur mit überforderten Nachbarschaften, sondern mit ganzen überforderten Quartieren zu tun haben“, erklärt Studienautor Prof. Dr. Torsten Bölting, Geschäftsführer des InWIS-Instituts. „Diese Quartiere sind geprägt von einer Kumulation sozialer Probleme – von Kinder- und Altersarmut über Bildungsmisere bis hin zu Migration und Einsamkeit. Die Wohnungswirtschaft allein kann diese Probleme nicht lösen, obwohl sie vielerorts zentrale Integrationsarbeit leistet. Politik und Gesellschaft müssen jetzt strukturelle Antworten liefern – nicht irgendwann, sondern sofort.“

Die Studie verdeutlicht zudem, dass viele Kommunen strukturell überfordert sind. Es fehlen nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch personelle Ressourcen und Kompetenzen, um die komplexen Herausforderungen in den Quartieren aktiv zu managen. Klassische Förderprogramme reichen nicht aus, um der Lage Herr zu werden. Vielmehr braucht es integrierte, langfristige Lösungen.

Axel Gedaschko, Präsident des GdW, fordert angesichts der Ergebnisse ein entschiedenes Umdenken: „Unsere Wohnungsunternehmen sind mit ihren rund sechs Millionen Wohnungen so etwas wie seismographische Frühwarnsysteme. Was sie heute melden, ist beunruhigend: Die Spannungen in den Quartieren nehmen zu, die Bereitschaft zur Integration nimmt ab. Und viele Kommunen sind längst an der Belastungsgrenze. Deshalb müssen jetzt Strukturen aufgebrochen, Ressourcen gebündelt und Kompetenzen verlagert werden.“

Er betont weiter: „Wir brauchen pragmatische Lösungen – nach dem Motto: ‚Whatever it takes‘. Deutschland braucht eine zentrale Kompetenzstelle ‚Zusammenleben im Quartier‘ auf Bundesebene, mehr finanzielle und personelle Ressourcen für die lokale Quartiersarbeit sowie dringend eine Vereinfachung und Flexibilisierung der Förderrichtlinien. Nur so können wir den sozialen Zusammenhalt in den Wohnquartieren erhalten und stärken – und das ist letztlich eine tragende Säule unserer Demokratie.“

Die Studie unterstreicht, dass Wohnungsunternehmen durch ihre Nähe zu den Menschen eine zentrale Rolle spielen können, wenn sie besser in politische Steuerung und Förderung eingebunden werden. Ihre Quartiersarbeit, ihr Engagement für altersgerechtes Wohnen und ihre Rolle als Kümmerer vor Ort müssen künftig systematisch unterstützt und gefördert werden.

Dabei steht fest: Seit der Grundgesetzreform 1994 ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Artikel 72 festgeschrieben. Damit haben nicht nur der Bund und die Länder, sondern auch die Kommunen einen politischen Kompass und einen klaren Auftrag, wenn es um die Entwicklung der verschiedenen Regionen, Städte und Gemeinden sowie der Quartiere geht, in denen die Menschen wohnen und arbeiten.

Dazu werden in der Untersuchung klare Handlungsempfehlungen formuliert: Das derzeit vorherrschende isolierte Nebeneinander staatlicher Zuständigkeiten muss abgebaut werden. Dazu sollten alle relevanten Akteure an einen Tisch gebracht werden – von Kommunen und Wohnungswirtschaft bis hin zu Pflegekassen, Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es braucht neue Finanzierungsmodelle für die Daseinsvorsorge, eine systematische Evaluierung bestehender Sozialleistungen sowie regulär verfügbare, kooperative Fördermodelle vor Ort. Ziel ist es, aus überforderten Quartieren wieder stabile Nachbarschaften zu entwickeln, in denen funktionierende Infrastrukturen, Vertrauen und soziale Teilhabe den Zusammenhalt stärken.